Erzählende Affen
Veranstaltungen erzählen Geschichten. Das Buch „Erzählende Affen“ erklärt, wie, wann und warum Narrative und Erzählungen mächtig wirken. Das gilt insbesondere, wenn wir sie nicht als solche erkennen, sondern für Wirklichkeit halten.
Geschichten erzählen: Das klingt gemütlich und harmlos, nach Lagerfeuer, Stammtisch und Märchenstunde mit Oma. Die These des Buches legt etwas völlig anderes nah: Geschichten, Erzählungen und Narrative können ungeheure, weltverändernde Macht besitzen. Im Guten wie im Schlechten. Dazu haben Autorin und Autor umfangreiche Erkenntnisse aus Psychologie, Anthropologie, Evolutionsbiologie sowie Medien- und Literaturwissenschaften zusammengetragen, die eine Umbenennung von Homo sapiens (der vernunftbegabte Mensch) in Homo narrans (der erzählende Mensch) gerechtfertigt erscheinen lässt. Einer, der sich – wenig weise – mit seinen Erzählungen immer wieder um Kopf und Kragen redet.
Die Selbsttäuschung fängt beim Einzelnen an. Ständig erzählen wir die Geschichte unseres Lebens neu, deuten sie um, bewerten Ereignisse der Vergangenheit in neuem Licht. Mit Wahrheitsfindung hat das wenig zu tun. Dem Gehirn geht es um kohärente Erzählungen. Die Teile müssen zusammenpassen und Sinn ergeben. Aber sie müssen nicht unbedingt wahr sein. Wir haben allen Grund, bei jenem Vorgang, den wir „Erinnern“ nennen, misstrauisch gegenüber sich selbst als Quelle zu sein. Die Erkenntnisse der Hirnforschung vorwegnehmend, schrieb der Schriftsteller Max Frisch: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine ganze Reihe von Geschichten.“
Ist das individuelle Illusionstheater schon problematisch genug, können Narrative auf der kollektiven Ebene sogar menschenfeindliche und sozialzerstörerische Macht entfalten. „Frauen sind gefährlich“: Diese Story wird schon in der Genesis erzählt (Eva verführt Adam zur Sünde) und über Jahrhunderte weitergeben. Die leidvollen Folgen sind bekannt: Abwertung des Weiblichen, „Hexen“verfolgung, Versklavung und Unterdrückung bis heute. Das Buch nennt viele Beispiele solcher Narrative: die Erfindung einer Figur namens „König“ (ein Mensch darf alle anderen regieren, weil er in einem bestimmten Bett geboren wurde“); das Konzept des „Homo oeconomicus“ (der Irrglaube, Menschen seien rationale Nutzenmaximierer – in Wirklichkeit werden sie stark von Irrationalität, unbewussten Gefühlen und systematischen kognitiven Fehlern geleitet); nicht zuletzt das ewige „Wir sind besser als die anderen.“
Es gehört zu ihrem Charakter, dass sie uns, weil in einer Art kollektiver Trance alle daran glauben, eine „normale“ Deutung der Dinge nahelegen. Insofern leistet das Buch dringend benötigte Aufklärung darüber, welchen Mythen wir ach so moderne Menschen anhängen.
Unterhaltsam ist es noch dazu, was gleichzeitig auf das positive Potential von Geschichten verweist, Wissen so aufzubereiten, dass es begeistert aufgenommen wird. Das Autoren-Duo versteht es, Geschichten von Bibel bis Hollywood, von Darwin bis Trump kunstvoll in ihre Analyse einzuweben. Die Kapitelfolge haben sie nach dem Archetyp aller Erzählformen gegliedert, nach den Stationen der Heldenreise. Als Kurztrip beschrieben: Der Held (sehr selten: die Heldin) erlebt einen „Ruf“, zunächst widerstrebend zieht er ins Abenteuer, besteht härteste Prüfungen und Gefahren, erfährt Hilfe durch einen Mentor, geht durch mehrere Höllen, um dann nicht unbedingt siegreich, aber innerlich gereift zurückzukehren. Diese archetypische Form findet sich in alte Mythen genauso wieder wie in heutigen Blockbustern, Social-Media Storys und Werbespots.
Wenn die transformative Heldenreise eine so mächtige Erzählform ist, stellt sich die Frage: Könnte man sie nicht nutzen, um attraktive Geschichten über die großen Abenteuer unserer Zeit zu erzählen? Könnte man mit einem „Ruf“ zu Klimawandel, skandalöser Armut und Migrationskrisen die Menschen berühren und ins Handeln bringen? Eine große Erzählung, um große Probleme gemeinsam zu lösen. Doch das Buch macht klar, warum das wenig Sinn macht. Denn Helden ziehen erst dann los, wenn ein Ereignis sie herausfordert. Niemals machen sie sich präventiv auf die Reise. Gerade das aber ist das Gebot der Stunde: zu handeln, bevor „das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Hinzu kommt das Präventionsparadox: Wenn Vorbeugung Schlimmes verhindert hat, ist es wenig sexy, davon zu erzählen.
Stattdessen empfiehlt das Autoren-Duo, „das eigene Leben als Geschichte einer gelingenden Zukunft zu erzählen“ – und dabei ehrlich zu sein: Bin ich Protagonist oder Antagonist des großen Ganzen, auch Schöpfung genannt? Dieses Gebot der Ehrlichkeit kann ich auch auf den konstruktiven Journalismus übertragen, der mir persönlich am Herzen liegt. Es ist wertvoll, Geschichten des Gelingens und der Selbstwirksamkeit angesichts globaler Herausforderungen für ein breites Publikum aufzubereiten. Aber nicht unkritisch, als ein paar hier und dort eingestreute Nachrichten zum Wohlfühlen; es braucht einen klaren Blick darauf, was wirklich wirkt. Nur in dieser Authentizität entfalten Narrative einer lebenswerten Zukunft ihre Strahlkraft.
Bei mir hat die Lektüre die Frage ausgelöst: Welche Art von Geschichten wollen wir bei und in Veranstaltungen erzählen? Machen wir den Teilnehmenden Angst, weil wir glauben, nur so die allgemeine Trägheit überwinden zu können? Oder betonen wir konstruktive, ko-kreative Geschichten in der Hoffnung, dass Sehnsucht und Selbstwirksamkeit starke Triebfedern sein können? Mir liegt Letzteres mehr. Die Angst-Geschichten verlieren mit der Zeit ihre Wirksamkeit. Das Publikum stumpft ab. Viele Menschen meiden Nachrichten mittlerweile, weil sie sich vom Bombardement mit Negativ-Nachrichten überfordert fühlen.
Ein Gegenmittel sehe ich im konstruktiven Journalismus (englisch: Solutions Journalism). Er bleibt nicht bei der Problemschilderung stehen, sondern stellt Lösungsansätze vor und bewertet sie kritisch. Wir alle möchten wissen, wie die Geschichte weitergeht.