Posen ohne Publikum

In unserem Netzwerk streiten wir darüber, ob ein Radiobeitrag auch eine Veranstaltung ist. Ich als Radiojournalist (und Moderator) sage: Ja. Sogar eine der schwierigsten Veranstaltungen. Denn ich halte einen Vortrag vor stummem Publikum.

In unserem Netzwerk streiten wir darüber, ob ein Radiobeitrag auch eine Veranstaltung ist. Ich als Radiojournalist (und Moderator) sage: Ja. Sogar eine der schwierigsten Veranstaltungen. Denn ich halte einen Vortrag vor stummem Publikum. Kein Raunen im Saal, kein Applaus, kein Gähnen und nie Buhrufe. Reden in die Stille, das ist Radio, in das imaginierte Publikum hinein. Umso mehr kann man als Redner in realen Publikums-Veranstaltungen daraus lernen.

Meinen Journalismus-Studierenden bleue ich regelmäßig ein: nehmt euch nicht so wichtig. Das Thema ist entscheidend. Form follows function. Genau aus dem letzteren Spruch, Form follows function, habe ich den ersten, nehmt euch nicht so wichtig, kürzlich über Bord geworfen. Und nur über mich berichtet. Über meinen Prostatakrebs und mich. Ein großes Tabuthema: Männer und ihre Männlichkeit. Oder was sie dafür halten. Prostatakrebs riecht nach Impotenz und Inkontinenz, beides Höchststrafen. Meinen ganzen Mut habe ich zusammengenommen mit dem Risiko, dass die einen mich für ein Weichei halten, das flennt. Und die anderen, dass ich als Super-Heroe dastehen will, der auch den Krebs niederringt. So fing ich am Ende an: „Was würden Sie tun, wenn Sie Krebs hätten? Ich hab erstmal geheult, mich selbst in den Arm genommen – und bin dann in den Bodensee gesprungen. Denn da war ich vor fünf Jahren, als mein Arzt mir am Telefon sagte, dass der Verdachts-Wert weiter stark gestiegen sei. Eine Stunde lang schwamm ich mir gegen die Wellen die Angst von der Seele. Und dann: habe ich davon meinen Kolleginnen und Kollegen erzählt, mit denen ich da unten zu einem Netzwerktreffen war. Reden hilft. Geteilte Angst ist halbe Angst.“

Nie bekam ich in über 30 Jahren Radiojournalismus so viele Reaktionen auf eine Sendung, nie so emotionale und dankbare. Männer mit Krebs, die ihre Seelenwelt gespiegelt sahen. Frauen, die ihre Männer zum Hören verdonnerten. Ärzte, die sich bedankten, dass einer mal Krankheit und Heilungswege so anschaulich beschrieb. Meine Lehre aus dieser Erfahrung: Wenn der Inhalt es zulässt, dass Sie persönlich werden, dann werden Sie es – auch als Redner oder Moderator. Mit allem, was Sie umtreibt. Ihrer Angst und Freude, Begeisterung und Abscheu, Neugier und Überdruss. Dann werden Sie nicht allein die Köpfe, sondern auch die Herzen des Publikums erreichen. Wenn es um Solaranlagen geht, dann beschreiben Sie das geile Gefühl, mit eigener Energie E-Bike und Auto zu fahren, die Hütte zu heizen. Wenn Sie ein Raumfahrt-Thema haben, zeigen Sie das traumhaft schöne Bild von Earthrise, das in Ihnen als Kind den Funken geweckt hat, das All zu erforschen. Wenn ich einen Pharmazie-Kongress eröffnen würde, fiele mir ein, dass meine Mutter nach dem Krieg nur ihre Lungenentzündung überlebte, weil meine Oma noch einen Schinken hatte, den sie auf dem Schwarzmarkt gegen Penecellin tauschte. Wenn ich einen Pädagogen-Kongress eröffnen dürfte, würde ich von meiner Lehrerin Fräulein Kriechel erzählen, meiner ersten großen Liebe. Und der Eifersucht, die mich überrollte, als sie mal einen Tag fehlte und dann Frau Wolter hieß. Das sind Geschichte, die unsere Herzen öffnen – und dann ist der Verstand auch hellwach und will daran wirken, dass alles noch besser wird.

Dann noch ein Tipp als Redner: Lassen Sie nie die Hoffnung fahren. Geben Sie in allem, was Sie tun, den Menschen einen Funken Wärme mit auf den Weg. Ein Gefühl, aufgehoben zu sein, angenommen oder angekommen. Die Realität ist Realität, klar. Aber wir können sie unterschiedlich betrachten. Der Krebs kann zurück kommen. Aber bis dahin – hat das Leben an Intensität und Dankbarkeit viel gewonnen: „Durch die Krankheit geht etwas verloren, aber was bleibt, das wird wertvoller. Ich steige auf mein Fahrrad. Genieße den Sommerwind, als ich an Münsters Aasee entlangfahre, spüre die Kraft in meinen Beinen. Freue mich auf meine Frau, meine Töchter, mein Enkelkind, Freundinnen und Freunde. Genieße, dass ich da bin. Und noch lange bleiben will.“

Das sind Erzählformen, bei denen Menschen dabei sein wollen, dran bleiben möchten. Und nicht abschalten: weder das Radio noch im Kongress.

Heiner Wember
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/feature-prostatakrebs-100.html